Carsten Nichte spricht mit Christopher Horne
Carsten Nichte: Wie bist du zur Fotografie gekommen?
Christopher Horne: Als ich vor 15 Jahren während des Studiums in Istanbul lebte, wurde ich über eine Freundin auf die Arbeiten von Ara Güler aufmerksam, der seine Stadt auf eine besondere Art und Weise portraitierte. Damals hatte ich keinen blassen Schimmer von der Materie, weder vom Handwerk noch von der Kunst, aber ich war sofort begeistert.
Ob es an Istanbul lag, an Ara Gülers Bildern oder an der Faszination der Kamera: Das Feuer, das damals in mir brannte, spüre ich noch heute, wenn ich auf den Auslöser drücke. Nach dem Studium und ein paar Jahre im Job beschloss ich, aus meinem Hobby einen Beruf zu machen, absolvierte an der Fotoakademie Köln mein Diplom und arbeite seither als Theater- und Portraitfotograf in Köln. Mal sehen, was die Zukunft so bringt.
Carsten Nichte: Wie interpretierst du das Thema „wegsehen zwecklos“ für dich?
Als Fotograf steht für mich beim Titel zunächst das (sehende) Sehen im Fokus. Auf einer eher “nerdigen” Ebene – als Trekkie seit Kindheitstagen – steht meine zweite Assoziation mit dem Titel aber auch mit dem geflügelten Wort der Borg: “Widerstand ist zwecklos”. Natürlich hat die Ausstellung keine derart martialische Ausrichtung, aber die Richtung ist für mich klar: Es soll in meinem Beitrag um etwas gehen, das mich bedingungslos hinsehen und nicht mehr los lässt. Die Bilder sollen in der gemeinsamen Ausstellung in verschiedenen Perspektiven aufgehen. In meinem Beitrag zeigt sich das Thema durch Alltagsbilder. Die Lockdowns in der Pandemie hatten dazu geführt, dass sich viele Menschen aus dem öffentlichen Leben zurückzogen oder das öffentliche Leben zwangsläufig heruntergefahren wurde. Dieser Standby-Modus hatte für mich den Blick auf witzige, aufmüpfige oder schöne Dinge und Orte freigegeben, die einem im hektischen Alltag vorher vielleicht nicht sonderlich auffielen. Also fing ich an, sie im Alltag zu fotografieren. Die Bilder zeige ich in “wegsehen zwecklos” zum ersten Mal in einer Ausstellung und ich bin schon sehr gespannt, wie sie mit den anderen Arbeiten wirken.
Carsten Nichte: Welche Fotografen inspirieren dich?
Christopher Horne: Von den vielen Fotograf:innen, deren Arbeiten mich besonders inspirieren, treten fünf besonders hervor.
1 / Als erstes möchte ich Alec Soth nennen. Seine dokumentarische Arbeit “Sleeping by the Mississippi” und andere Arbeiten sollten in keinem gut sortierten Bücherregal fehlen. Seine Bilder strahlen nicht nur eine gewisse Ruhe und Intimität aus, er schafft es durch die technischen Möglichkeiten der Fachkamera bspw. die Schärfeebenen in einigen Bildern so zu verlagern, dass sie der Bildgestaltung eine weitere Erzählebene hinzufügen.
2 / Ein zweiter Fotograf, dessen Arbeiten mich tief beeindrucken, ist Alex Webb. An seinen Bildern faszinieren mich die überlagernden Ebenen und die hohe Komplexität der Bildsprache. Das berühmte Buch “A city of hundred names” über Istanbul ist auch eins meiner Lieblingsbücher, vor allem eher aus einem nostalgischen Grund: Während des Studiums lebte ich ca. 2,5 Jahre in der Stadt, kam dort zur Fotografie und irgendwie ist die Stadt ein Teil von mir geworden. Die Bilder in dem Buch gehen mir daher nochmal anders nah und ich versuche oft in meiner eigenen Reportagearbeit, spannende Gestaltungen zu finden – wohlwissend, dass die Komplexität seiner Bilder kaum erreichbar ist.
3 / In meiner Ausbildung an der Fotoakademie Köln bin ich auf die Portraitsammlung “People I know” von Inta Ruka aufmerksam geworden. Inta Rukas Portraits schaffen Räume der Begegnung mit den portraitierten Personen. Ihre Bilder erzählen so viel und wirken dabei wie “aus dem Handgelenk geschüttelt”. Die Geschichten, die Rukas dokumentarische Portraits implizieren und die Art und Weise ihrer Inszenierung faszinieren mich sehr.
4 / Die vierte Fotografin ist Rinko Kawauchi. In ihrer Bildsprache finde ich eine weitere Inspirationsquelle: Ihre Bilder sind nachdenklich, verspielt, poetisch. In ihnen finden unbestimmte Gefühle des Privaten ihren Platz und genau das fasziniert mich sehr. Ihr Spiel mit Unschärfe und (visueller) Stille passt ganz gut in melancholische und verletzliche Momente.
5 / Schließlich inspirieren mich die reduzierten Ecken-Portraits und die Künstler:innenportraits von Irving Penn, die anders als bei Inta Ruka sehr stark dirigiert und illustrativ sind. Wenn ich mal wieder eine Inspiration für illustrative, reduzierte Portraits benötige, schaue ich mir seine Schwarzweißfotografien an und lasse sie auf mich wirken. Besonders beeindruckt mich seine Arbeit mit Formen, Linien und die Abwesenheit von Requisiten.
Carsten Nichte: Worin siehst du die größte Herausforderung in der Theaterfotografie?
Christopher Horne: Was mich an der Theaterfotografie besonders fasziniert, ist die Fähigkeit, flüchtige Momente und tiefe Emotionen festzuhalten. Auf der Bühne spielen sich dramatische, lustige oder auch traurige Geschichten ab, die oft in ein spannendes Licht gehüllt sind. Meine Aufgabe als Fotograf ist es, diese Gefühle und Geschichten über meine Bildgestaltung in eigenständigen Bildern zu transportieren. Dabei ist es oft ein einziger Augenblick, der die gesamte Atmosphäre einer Szene einfängt; und genau das macht die Theaterfotografie für mich so aufregend.
Eine wesentliche Herausforderung der Theaterfotografie sind die variierenden Lichtverhältnisse. Das Bühnenlicht kann extrem hell oder düster sein, und oft ändern sich Lichtstimmung und Farbgebung schon während einer Szene. Diese Dynamik stellt höchste Ansprüche an mich: Ich muss in der Lage sein, schnell auf alle Veränderungen zu reagieren und darf dabei die Kameraeinstellungen nicht aus dem Blick verlieren. Eine weitere Herausforderung sind die schnellen Bewegungen im Raum. Oft sind sie schnell und unvorhersehbar, was präzises Timing und eine schnelle Reaktionszeit erfordert. Ich muss immer abschätzen, wo ich am besten stehen und welche Belichtungszeit gerade passt, um die Situation gut einzufangen.
Trotz oder gerade wegen dieser Hürden bietet die Theaterfotografie für mich einen enormen kreativen Spielraum. Man kann mit Perspektiven, Schärfe und Unschärfe, sowie mit unterschiedlichen Belichtungszeiten experimentieren, um besondere Effekte zu erzielen.
Diese kreative Freiheit ist für mich etwas besonderes. Sie erlaubt es mir, spannende Perspektiven zu finden und den Raum als Gestaltungselement zu nutzen.
Carsten Nichte: Du promovierst zu diskriminierungssensibler Bildsprache. Worum geht es da? Bemerkst du eine Veränderung in deinen Bildern?
Christopher Horne: Diskriminierungssensible Bildsprache gründet auf machtkritischem Denken. Die Grundannahme ist dabei nach dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu, dass unsere Wahrnehmung und die Art und Weise unserer Fotografie (die Bildgestaltung) durch unseren Habitus, unsere Erfahrungen, Geschmäcker und unsere eigene Stellung in der Gesellschaft geprägt sind. Ein Bild kann daher nie ganz objektiv sein, auch wenn der Sensor oder der Film zunächst einmal ein Abbild einer Realität aufnehmen. Diskriminierungssensible Bildsprache zeichnet sich dadurch aus, dass ich mir über die grundlegenden Gestaltungsprinzipien eines Bildes genauso bewusst bin wie über gesellschaftliche Machtverhältnisse und meine Rolle darin. Die Leitfragen, die ich mir stelle, gelten natürlich für alle Jobs, ganz gleich, wen ich fotografiere. Portraitiere ich aber als (noch) nichtbehinderter weißer Mann eine Sportlerin im Rollstuhl “von oben herab” oder “auf Augenhöhe” (und damit meine ich das nicht unbedingt im wortwörtlichen Sinne)? Welche ihrer Stärken möchte ich in dem Bild betonen? Ist es Teil der Geschichte (und im Sinne der Abgebildeten), auch ihre Schwächen zu zeigen? Wie stelle ich das an ohne sie bloßzustellen? Wie berücksichtige ich dabei die Linienführungen, den Hintergrund, perspektivische Verzerrungen und andere Gestaltungselemente? Möchte ich im Bild kritisch auf Ableismus im Alltag und Ermächtigungsstrategien behinderter Menschen eingehen? Sollte ich dazu einen Ort wählen, an dem das besonders deutlich wird? Es geht für mich in der Fotografie also auch um die Geschichten, die wir mit Bildern erzählen wollen – und das hat auch viel mit Bildstrategie zu tun. Das gelingt natürlich nicht immer, ist je nach Foto mal mehr, mal weniger relevant und oft auch anstrengend, aber es lohnt sich (wenn man es nicht ohnehin schon macht). Man lernt dabei viel über andere, viel über sich selbst und trägt gleichzeitig zu einem nachaltigeren gesellschaftlichen Bildgedächtnis bei.
Carsten Nichte: Bemerkst du durch deine wissenschaftliche Arbeit eine Veränderung in deinen eigenen Bildern?
Christopher Horne: Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Bildern hat definitiv Einfluss auf meine eigene Fotografie ausgeübt. Nicht nur achte ich noch mehr als vorher auf formale Bildelemente und die Art und Weise der Bildgestaltung, ich denke seitdem auch nochmal stärker über meine eigenen Motive nach, bevor ich ein Bild aufnehme und nachdem ich es bearbeitet habe. Zu Beginn hat mich diese Reflexion blockiert, weil ich den Eindruck hatte nicht zu wissen, was ich will – mittlerweile sehe ich es als eine Stärke an. Gleichzeitig gehe ich kritisch mit meinem Bildarchiv ins Gericht und habe auch zuhause schon das ein oder andere Bild von der Wand genommen, weil es implizit Botschaften vermittelt, mit denen ich durch mein jetziges Bildwissen nicht mehr einverstanden bin.
Carsten Nichte: Wie beurteilst du die Verwendung von KI in der Fotografie?
Christopher Horne: Das ist keine leichte Frage, denn sogenannte KI ist ja bereits in unsere modernen Kameras eingebaut und auch Teil der Bildbearbeitungsprogramme, die wir verwenden. Was heutzutage unter KI gemeint ist, betrifft oft eher computergestützte Bildgeneration und da sehe ich ein zweischneidiges Schwert, ähnlich wie bei Texten. Einerseits können sog. KI-Tools in der Bildbearbeitung sehr viele kleinteilige und zeitintensive Arbeitsschritte (“Fleißarbeit”) abnehmen, gleichzeitig steht natürlich auch die Frage des Urheberrechts im Raum, da – solange es keinen klaren rechtlichen Rahmen gibt – die meisten Bilder im Internet Freiwild für das Machine Learning der einzelnen Modelle sind. Gleichzeitig habe ich zunehmend Schwierigkeiten, das komplexe Thema als einzelner zu durchdringen und bin daher froh über den KI-Newsletter von Freelens, wo aktuelle Diskurse nochmal aufbereitet werden.
Carsten Nichte: Wie wichtig ist der dokumentarische Charakter bei Bildern für dich? Gibt es Grenzen in der Inszenierung?
Christopher Horne: Wenn ich kurz antworten müsste, würde ich sagen: Nein. Die lange Antwort ist differenzierter: Bilder zeigen nie etwas objektiv und ihre Inszenierung bzw. Produktion hängt von vielen Faktoren ab, die sich auf der formalen und inhaltlichen Ebene zeigen. Die Soziologin und Bildredakteurin Heike Kanter hat mal in einem Aufsatz geschrieben, dass ein gutes Bild ein gelungenes Bild sei und ein gelungenes Bild seinen Zweck erfülle. Ich finde, dass das eine schöne Definition ist, die eine Dominanz ästhetischer Gesichtspunkte außen vor lässt und sich aufs Wesentliche konzentriert; egal ob es sich um eine Pressefotografie, ein Bild für einen Modekatalog oder ein Bild fürs Familienalbum handelt. Der Zweck des Bildes ist ausschlaggebend. Das heißt für mich konkret, dass Bilder zu einem Artikel über den lokalen Hasenzucht e.V. ebenfalls inszeniert sein können (und es sicherlich oft auch sind), eine Inszenierung wie bei Annie Liebowitz oder David la Chapelle dann aber vermutlich zuviel sein könnte. Im Falle eines Portraits für Bildberichterstattung würde ich beispielsweise ein Portrait vor Ort nicht durch mitgebrachte Requisiten “ergänzen”, eine verdichtete Anordnung von Personen oder ein stimmiges Licht könnten die Erzählung eines Fotos aber stärken, ohne den Wahrheitsgehalt der Geschichte zu stark zu verändern. Gleichzeitig gilt für die Theaterfotografie, dass meine fotografische Inszenierung der theatralischen Darstellung immer auch im Rahmen des Stückes stattfinden sollte, die Zentralperspektive der Publikumssicht dem Zweck der Dokumentation aber nicht gerecht wird; sprich: Ich suche mir spannende Perspektiven, spiele mit vorhandenen Linen und Schatten und nutze die perspektivischen Möglichkeiten der Brennweiten.